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Gebt ihnen Raum! Die Fassaden des Schlüterhofs müssen offen sein

Erst wenn man Schlüters Architektur in ihrer Raumhaltigkeit und Modernität wirklich begriffen hat, kann man sie richtig reproduzieren und sinnvoll ergänzen.

Nachdem der Bundestag entschieden hat, dass die barocken Fassaden des Berliner Schlosses authentisch rekonstruiert werden sollen, geht es nun darum, die Voraussetzungen dafür auch von kunsthistorischer Seite zu schaffen. Mit dem Parlamentsbeschluss ging die Erkenntnis einher, dass es sich bei Andreas Schlüters Architektur um Konzeptkunst handelte, die unter bestimmten Voraussetzungen reproduzierbar ist (siehe FAZ vom 14. 4. 2002, S. 42 und http://www2.kunstgeschichte.uni-freiburg.de/Online-Publikationen/Stephan_Stadtschloss/). Allerdings reicht dazu die Auswertung der – zum Glück sehr umfangreichen – fotografischen Dokumentation des Vorkriegszustandes und der übrigen Quellen nicht aus. Vielmehr muss Schlüters ursprüngliches Konzept wieder entdeckt und neu erschlossen werden. Nur dann gewinnt man den richtigen Maßstab für die Rekonstruktion der barocken Fassaden und ihre Ergänzung durch eventuell modern zu gestaltenden Teile.

Wie wichtig es ist, das Quellenmaterial auf die ursprüngliche Konzeption hin zu befragen, zeigt sich bereits am sog. Portal I der Stadtfront und ganz besonders an den Fassaden des Schlüterhofs. Von der Idee her hatte Schlüter am Portal I vier Riesensäulen, die ein mächtiges, durchlaufendes Gebälk trugen, paarweise auf erdgeschosshohe Sockel gestellt. In die Mittelachse dieser Makrostruktur schob er sodann als Mikrostruktur die Säulenarchitekturen der drei Stockwerke. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die beiden Sockel der Riesensäulen – über die Mittelachse hinweg – mit einer Balkonplatte verbunden. Diese verdeckte die Kapitelle der unteren dorischen sowie die Basen der mittleren jonischen Stockwerksordnung und unterbrach damit deren Superposition. Ferner verschmolz sie die untere Stockwerksordnung mit den angrenzenden Sockeln zu einer eigenständigen Erdgeschosszone. Damit wurde die für Schlüters Fassadensyntax elementare Trennung von Makro- und Mikrostruktur aufgehoben. Ferner wirkte die Riesenordnung, optisch ihrer Sockel beraubt, im Verhältnis zu dem mächtigen Gebälk zu kurz. Dass die Balkonplatte beim Wiederaufbau wegzulassen ist, versteht sich von selbst.

Wenn aber schon ein einzelnes Element das architektonische Konzept derart verunklarte, um wie viel schwerer wog dann erst ein so drastischer Eingriff wie die nachträgliche Verglasung der von Schlüter offen geplanten Treppenhausfassaden im Hof?! Diese und weitere Fragen zu Schlüters Konzept und damit zum Maßstab einer richtigen Rekonstruktion sollen mit folgenden zwölf Thesen beantwort werden: Zunächst belegen formale, ikonographische und historische Gründe, dass die Treppenhausfassaden des Hofes ursprünglich wirklich offen waren (These 1-4). Dieser Zustand ist für die Rekonstruktion bindend, selbst wenn er theoretisch schon zu Schlüters Lebzeiten verändert worden wäre (These 5). Die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes machte nicht nur die historischen Bezüge zum städtebaulichen Umfeld wieder sichtbarer (These 6), sondern wäre auch der Nutzung des Schlosses als Humboldt-Forum äußerst zuträglich – in funktionaler wie in symbolischer Hinsicht (These 7). Erforderten offene Fassaden aus Gründen des Witterungsschutzes eine gläserne Hofüberdachung, so wäre diese mit Schlüters Konzeption durchaus vereinbar (These 8). Ein Glasdach böte sogar eine Reihe ästhetischer und praktischer Vorteile (These 9-11). Überhaupt könnte sich die moderne Architektur im Diskurs mit Schlüter profilieren (These 12).

Beginnen wir mit der ersten These: Anders als bei Portal I ist der ursprüngliche Zustand des Hofes zwar nicht vollständig dokumentiert, doch lässt er sich weitgehend rekonstruieren. Ein Hauptmerkmal des Schlüterschen Konzepts war, dass die deutlich abgesetzten Fassadenvorsprünge, die sog. Risalite, mit denen sich die drei Treppenhäuser in den Hofraum schoben, nicht nur in ihrer fast schon skeletthaften Gliederbauweise von der flächigen Wandhaftigkeit der sie flankierenden Restfassaden abhoben. Vielmehr ergaben die beiden übereinander stehenden Kolossalordnungen auch eine Makrostruktur, in welche die Stockwerksgliederungen, ähnlich wie beim Portalrisalit I der Stadtfront, als Mikrostruktur eingestellt waren. Anders als an der Stadtfront konnten sich diese Stockwerksgliederungen aber räumlich entfalten: nach beiden Seiten in Gestalt zweigeschossiger Laubengänge, die den Hof umschlossen, und in die Tiefe des Baukörpers in Gestalt der Treppenhäuser. Was die tiefenräumliche Ausdehnung betrifft, so bildeten sich innerhalb der seitlichen Treppenhäuser und der angrenzenden Säle Säulenkorridore, die in Superposition über alle drei Geschosse hinweg den gesamten Schlosskörper durchdrangen, um an dessen Außenseiten, also an der Stadt- und an der Lustgartenfront, als Mikrostrukturen der dortigen Risalite erneut zum Vorschein zu kommen. Besonders sinnfällig wurde dieses Prinzip, wie eben gezeigt, am Portalrisalit I. Im Großen Treppenhaus hingegen wurden die Stockwerksordnungen zunächst an der Fassadeninnenwand wiederholt. Ferner traten sie an den Innenseiten der Galerien und an der Rückwand sowie an der Stirnwand zum Schweizersaal auf. Gestaltete Schlüter die Stockwerksordnungen der seitlichen Hofrisalite nach dem Vorbild von Berninis Scala Regia im Vatikan oder Borrominis Prospettiva im Palazzo Spada als tiefenräumliche Prospekte, so unterteilte er den Raum hinter dem Großen Hofrisalit in mehrere Schichten.

Ebenso gut ließen sich die Stockwerksarchitekturen aber auch in umgekehrter Richtung lesen: In den Hoflauben von den Seiten zur Mitte und in den Treppenhäusern von hinten nach vorne. Nunmehr drängte die Innengliederung der Treppenhäuser von hinten in die perforierte Fassade, um sich dort mit den von beiden Seiten kommenden Lauben zu vereinen.

Verstärkt wurde diese szenographische Wirkung durch die Treppenläufe. Sie wiesen nicht nur in verschiedene Richtungen und erstreckten sich nicht nur auf unterschiedlichen Ebenen; es kontrastierten auch ebene mit schrägen und helle mit dunklen Partien. Und ein jeder, der diese Läufe hinauf- oder hinab stieg, wurde zu einem Teil der Inszenierung: als Betrachter einer auf Kinästhesie und Transformation angelegten Architektur oder als ein von anderen betrachteter, sich im Raum bewegender Körper. So konnten die Treppen – gerade im Zusammenspiel mit dem Hofraum, dem sie sich öffneten – ihre ureigenste zeremonielle Aufgabe erfüllen, nämlich „Öffentlichkeit“ herzustellen, eine Bühne für das barocke Staatsschauspiel zu sein. Dass Schlüter solch eine „öffentlichwirksame“ Szenographie entwarf, um sie dann hinter Glasfenstern zu verstecken, ist undenkbar.

Die Risalite und die verglasten Restfassaden unterschieden sich voneinander also nicht nur durch den Gegensatz von plastischer, ineinander verschachtelter Gliederbauweise und reliefartiger, parataktisch strukturierter Wandbauweise. Sie unterschieden sich auch durch den Kontrast von offener Raumhaltigkeit und geschlossener Flächigkeit. Natürlich steigerte auch dies die szenographische Gesamtwirkung. Darüber hinaus traten die Risalite zu den Restfassaden in ein höchst komplexes dialektisches Verhältnis. Es ist daher eine Ironie der Geschichte, dass diese wunderbare architektonische Inszenierung – nach einem langen Dornröschenschlaf – erst wieder im Zweiten Weltkrieg sinnfällig wurde, als die Türen und Glasfenster der Risalite unter dem Druck der Luftminen barsten, – um kurz darauf mit dem Abriss des Schlosses endgültig verloren zu gehen.

Dass die Hofrisalite einst offen waren, erkennt man auch an einer Reihe weiterer Details. Nur ein Beispiel: Es war Schlüter ein grundsätzliches Anliegen, die Säulenreihen, mit denen er den Schlosskörper geschossweise durchzog, in sämtlichen Risaliten sichtbar beginnen bzw. – je nach Blickrichtung – auslaufen zu lassen. Wären nun die Hofrisalite verglast gewesen, wären die Stockwerkssäulen in der Fassade von den Glasfenstern hinterfangen und damit von der Gliederung der Treppenhäuser abgeschnitten gewesen (so wie dies später dann tatsächlich der Fall war). Diese Unterbrechung konnte Schlüter aber unmöglich gewollt haben. Betrachten wir zur Gegenprobe den Garten- und den Stadtrisalit, die von Anfang an verglast werden sollten. In ihnen stellte Schlüter nicht nur eine Säule vor, sondern auch eine Säule hinter das Fenster oder genauer: hinter die Wandzunge, welche die Fenster rahmten. Die Kontinuität der Säulenkorridore war hier gewährleistet. Dies bedeutet im Umkehrschluss: Wenn in den Hofrisaliten diese inwendigen Säulen ebenso wie die Wandzungen fehlten, dann nur deshalb, weil sie wegen der Offenheit der Fassade nicht vonnöten waren.

Allerdings, und dies ist der zweite Punkt, legen nicht nur formalästhetische und strukturelle, sondern auch ikonographische Gesichtspunkte nahe, dass Schlüters Treppenhäuser einst offen waren. Beispielsweise kehrten die gefangenen Sklaven, die auf Türen an der Rückwand des Großen Treppenhauses zu Allegorien der Stärke gehörten, am Reiterdenkmal des Großen Kurfürsten wieder, das Schlüter auf der Schlossbrücke errichtet hatte. Auf die Stärke des Hauses Hohenzollern spielte in den Türreliefs ferner eine Säule an. Diese setzte Schlüter – fraglos mit derselben Bedeutung – in riesenhafter Form am Stadtrisalit ein, auf den man von der Schlossbrücke aus zuging.

Ein weiteres Beispiel für die ikonographische Verschränkung von Innen und Außen war das preußische Königswappen. Im Deckenbild der Schwarzen Adler-Kammer wurde seine Schöpfung durch die Mächte des Himmels gefeiert – eine allegorische Anspielung darauf, dass die preußische Königswürde von Gott gestiftet wurde. Im Bildprogramm des angrenzenden Rittersaals brachte Minerva, die Göttin der Weisheit, den Wappenschild dann vom Himmel auf die Erde, wobei er sinnigerweise von substanzloser Malerei in dreidimensionalen Stuck überging. In einem dritten Schritt wurde das auf diese Weise ‚real’ gewordene Wappen an der Außenfassade des Rittersaals von Göttinnen des Ruhmes der Öffentlichkeit präsentiert. Damit wurden die Fassaden, die Schlüter gleich einem Krönungsornat um den alten Baukörper der kurfürstlichen Residenz gelegt hatte, in die himmlische Stiftung einbezogen.

Besonders galt das für den Großen Hofrisalit. An der Rückwand des dahinter liegenden Treppenhauses erschien eine von Schlüter modellierte Stuckfigur Jupiters. Auf dem Rücken seines Adlers war der Herrscher des Olymp unmittelbar aus dem am Plafond dargestellten Himmel herab geflogen. Das Schloss erwies sich damit als Sitz des durch den Göttervater personifizierten absoluten Souverän. Wohl aus diesem Grund kopierte Schlüter mit den Kapitellen der kolossalen Säulen, mit denen er den Treppenhausrisalit schmückte, auch den am Forum Romanum gelegenen Jupiter Stator-Tempel. Fürstliches Selbstverständnis, Romzitat und Jupiter-Ikonographie verdichteten sich zu einer Sinneinheit. Dass derlei Bezüge bei offenen Fassaden leichter wahrzunehmen waren als bei verglasten, liegt auf der Hand.

Der Rekurs auf Rom leitet zum dritten Punkt über. Besser als alle anderen architektonischen Würdeformeln war die römische Architektur geeignet, den Aufstieg des Bauherrn, Friedrichs I., zum König in Preußen baupolitisch zu legitimieren. Nur sie vermochte es in ihrer Magnifizenz und Majestät, der neuen Königsresidenz den nötigen imperialen Habitus zu verleihen und Berlin zumindest auf dem Gebiet der Kunst zu einer Hauptstadt europäischen Ranges zu erheben. Aus diesem Grund vereinte kaum ein anderes Bauwerk nördlich der Alpen in sich so viele Romzitate wie das Berliner Schloss: Neben dem bereits erwähnten Motiv der Prospettiva und den antikisierenden Kapitellen finden sich Anspielungen auf den Palazzo Madama, auf Michelangelos Konservatorenpalast, auf die Deckenfresken des Palazzo Barberini und auf den Septimius-Severus- und den Konstantinsbogen. Die eindeutigsten Kennzeichen für Romanitas waren aber – zusammen mit den von Schlüter gleichfalls angestrebten Flachdächern – offene Fassaden. Das galt erst recht, wenn damit eine szenographische Inszenierung von Mensch und Architektur einherging.

Um König zu werden, hatte Friedrich etliche Widerstände überwinden müssen. Und da hätte ihn ausgerechnet das nordalpine Klima davon abhalten sollen, seine politischen Ansprüche mit einem Palast alla Romana zu untermauern – wo doch selbst sein schwedischer Kollege – ebenfalls um der Romanitas willen – im weit nördlicher gelegenen Drottningholm an den szenographisch relevanten Stellen auf eine Verglasung verzichtet hatte?

Wie beliebt offene Treppenarchitekturen in Renaissance und Barock waren, belegen viertens die noch heute offenen (oder wieder geöffneten) Wendelsteine in Blois und Torgau sowie die Stiegenhäuser in Sankt Florian oder in den neapolitanischen Adelspalästen des Architekten Ferdinando Sanfelice. Wie in Berlin gaben sie sich durch Offenheit als „öffentliche“ Räume zu erkennen.

Wer sich diese Bauten vor Augen hält, kann die Wirkung nachempfinden, die Schlüter seinem Hof einst zugedacht hatte. Und wer sich die im 19. und 20. Jahrhundert aus Gründen der Sicherheit, des Witterungsschutzes oder der Raumgewinnung verglasten oder gar vergitterten Treppenhäuser des Oberen Belvedere in Wien, des Hotel Lambert in Paris, des Palazzo della Consultà in Rom, des Alten Museums in Berlin oder des Schlosses Drottningholm vor Augen hält und sich auf alten Abbildungen ihren ehemaligen Zustand vergegenwärtigt, kann ermessen, wie groß der ästhetische Verlust ist.

Fünftens: Die eben vorgetragenen Gründe legen eine Rekonstruktion von Schlüters Konzept selbst dann nahe, wenn, dies nur als Gedankenspiel, es schon zu seinen Lebzeiten zu einer Verglasung gekommen wäre. Dass Architekten – unter welchen Umständen auch immer – gezwungen wurden, ihr ursprüngliches Konzept aufzugeben, kam gelegentlich vor. Beispielsweise musste Filippo Juvarra das Treppenhaus des Palazzo Madama in Turin, das er zunächst offen entworfen hatte, bereits während der Bauzeit verglasen. Wer Juvarras Entwürfe mit der ausgeführten Fassung vergleicht, kann über eine solche Entwicklung nur tiefstes Bedauern empfinden.

Aber würde ein solches Bedauern es rechtfertigen, ein Bauwerk nachträglich zu korrigieren? Ein unversehrt erhaltenes Bauwerk wie den Palazzo Madama sicherlich nicht! Anders sieht es bei Gebäuden aus, die ganz oder in Teilen rekonstruiert werden müssen. Als ein gelungenes Beispiel lässt sich die barocke Hofkirche in Dresden anführen. Das Besondere an ihrem Innenraum sind die umlaufenden Galerien, die wie Hoffassaden wirken und von denen sechs Bögen – entgegen dem ursprünglichen Entwurf Gaetano Chiaveris – geschlossen wurden: vier zu Seiten des Hochaltars mit königlichen Oratorien noch während der Bauzeit und später zwei weitere zu Seiten der Orgel mit Schallwänden. Beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wurden alle diese Bögen wieder

geöffnet. Die einzigartige szenographische Wirkung, die der Innenraum dadurch gewann, beweist, wie gerechtfertigt diese Maßnahme war. Und was sich bei der Wiederherstellung der beschädigten Dresdner Hofkirche als machbar erwies, sollte bei der Totalrekonstruktion des Berliner Schlosses erst recht möglich sein.

Wie weit im Extremfall zur Wiederherstellung des Gesamteindrucks gegangen wird, zeigt ein weiteres Beispiel aus Dresden: Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts waren die Fassaden des dortigen Schlosshofs mit Sgraffito-Wandmalereien bedeckt. Nachdem diese im 17. Jahrhundert mehrfach erneuert worden waren, ließ August der Starke sie 1719 vollkommen abschlagen. Ab 1989 wurden sie vollständig rekonstruiert – anhand über dreihundert Jahre alter Darstellungen sowie nach Fotos eines verloren gegangenen Schlossmodells aus der Zeit der Renaissance. Obwohl man angesichts derart unpräziser Quellen statt von einer „Rekonstruktion“ von einer „schöpferischen Nachbildung“ sprechen muss, war selbst diese Maßnahme berechtigt, da der Hof dem Originalzustand in seiner heutigen Erscheinung weitaus näher kommt als er es in der Fassung nach 1719 tat. In Berlin hingegen genügt es, konzeptionell falsche Elemente bei der Wiedererrichtung einfach wegzulassen, und man hat Schlüter nicht nur nachempfunden, sondern reproduziert.

Überdies würde durch eine Öffnung der Treppenhäuser nicht nur Schlüters Idee nachvollziehbarer. Es träten auch, und dies ist die sechste Überlegung, die historischen Bezüge zum städtebaulichen Umfeld wieder deutlicher zutage. Dies gilt besonders für das Alte Museum, dessen Treppenhaus Karl Friedrich Schinkel gleichfalls hinter eine (vormals) offene Säulenarchitektur verlegt hatte. Dass Schinkel einen Bezug zum Schloss herstellen wollte, liegt insofern nahe, als er auch seine kolossale jonische Säulenordnung explizit auf die Proportionen des Schlosses abstimmte und mit den Adlern über dem Kranzgesims den Adlerfries an Schlüters Gartenfront paraphrasierte. Wer einst das Schloss von Süden nach Norden durchschritt und sich dem Museum näherte, erlebte mithin eine komplexe Raummetamorphose: Über den korridorartigen Tiefenraum des Stadtrisalits gelangte er in den Innenhof, der von den Räumen der Lauben hufeisenförmig umschlossen wurde und sich zugleich in den Treppenhäusern fortsetzte, wo er entweder geschichtet wurde (Großer Risalit) oder erneut die Gestalt eines Korridors annahm (südlicher Hofrisalit). Hinter dem Schlosskomplex entfaltete sich der Freiraum des Lustgartens, der schrittweise ins Museum führte: über den Vorraum der Säulenhalle und den Binnenraum des einst offenen Treppenhauses in den reinen Innenraum der zentralen Rotunde.

Darüber hinaus würden die offenen Hoffassaden siebtens zu einem integralen Bestandteil des geplanten Humboldt-Forums. Ein Forum ist der Idee nach ein gleichermaßen öffentlicher wie offener Raum. Damit die Metaphorik des Humboldt-Forums als einer internationalen Begegnungsstätte Sinn ergibt, bedarf es also eines zentralen Raumes, der als ein großes Foyer dient. Als ein Foyer, in dem die Menschenströme zusammen laufen und von dem aus sie sich wieder im Gebäude verteilen. Als eine Bühne, auf der sie in der architektonischen Inszenierung aufgehen, ja in der deutlich wird, dass diese Architektur erst dann als vollendet betrachtet werden kann, wenn sie von Menschen belebt und bespielt wird. Für diese Funktion ist der Schlüterhof als das Herz der gesamten Anlage prädestiniert. Damit dieses Herz schlagen kann, dürfen die Arterien aber nicht verstopft sein.

Eine so kommunikative, den Menschen in den Mittelpunkt stellende Architektur, wie es der Schlüterhof werden kann, hätte aber auch noch eine zweite symbolische Bedeutung: Mit seinen zahlreichen Rekursen auf die Architektur der Antike, auf das Rom Michelangelos, Borrominis und Berninis, auf die schwedische und, so gilt es hinzuzufügen, auf die französische Palastbaukunst war Schlüters Schloss eine für seine Zeit bemerkenswert weltoffene Hauptstadtarchitektur. Dass eine solch kosmopolitische Aufgeschlossenheit auch der bundesdeutschen Metropole zur Ehre gereichte, dürfte Konsens sein. Aus eben diesem Grund soll das rekonstruierte Schloss im Geiste Wilhelms und Alexanders von Humboldt genutzt werden. Am ehesten sinnfällig würde der so beschworene Genius loci indes in den offenen Risaliten eines überdachten Schlüterhofes. Gerade in seiner Offenheit wird der Schlüterbau zu einem sprechenden Symbol, zu dem von Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee und Klaus-Dieter Lehmann, dem scheidenden Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, gleichermaßen beschworenen „Schaufenster des Weltwissens und der Weltkulturen in der Tradition Humboldts“.

Natürlich muss man sich fragen, warum Schlüters Treppenhäuser überhaupt verglast wurden. Wie in zahlreichen vergleichbaren Fällen dürfte der Witterungsschutz der Hauptgrund gewesen sein. Hinzu kam, dass die Wertschätzung für barocke Szenographien im 19. Jahrhunderts stark zurückging. Das barocke Hofzeremoniell hatte seine Bedeutung sogar schon unter dem Soldatenkönig eingebüßt. Eigentlich sollten wir heute ästhetisch und bautechnisch wieder auf einem Stand sein, der es uns erlaubt, originalgetreu, d.h. ohne jeden gläsernen Witterungsschutz, zu rekonstruieren. Wenn nicht, so wäre – Punkt acht – ein den gesamten Hof überspannendes Glasdach fraglos besser als eine Verglasung der Risalite. Über ein solches Glasdach, das u.a. der ‚Förderverein Berliner Schloss’ lange favorisiert hat, wurde viel diskutiert. Kritiker gaben zu bedenken, dass der Hof dadurch seinen eigentlichen Charakter als ein Raum unter freiem Himmel verlöre. Überdies würde die Dachkonstruktion ihre Schatten auf die Fassadenflächen werfen und damit Schlüters Architektur verfremden. Diese Einwände sind fraglos berechtigt.

Allerdings wäre ein Glasdach gar keine so starke Verfremdung, wie man zunächst meinen könnte. Tatsächlich, und damit kommen wir zur neunten Überlegung, wäre die Abschottung des Hofes vom Himmel weniger gravierend als seine Trennung von der Szenographie und dem Bildprogramm der Innenräume. Das hat mehrere Gründe. Zunächst besitzen die den Hof nach oben hin abschließenden Kranzgesimse und Dachbalustraden, die den Ausblick in den Himmel rahmen, für das Verständnis einer Architektur nicht denselben Stellenwert wie Fassadenöffnungen. Ihre Veränderung fiele daher weniger ins Gewicht. Wie schon gesagt: Wenn wir schon Glas verwenden müssen, dann besser über unseren Köpfen, wo es weniger stört, als unmittelbar vor unseren Augen.

Darüber hinaus besaß die Naturerscheinung des Himmels im Barock, anders als in der Aufklärung und der Romantik, nur einen sehr bedingten Eigenwert. Umso mehr wog die künstlerisch gestaltete und intellektuell erdachte Architektur. Folglich hatte Schlüter seine Fassadenkunst nicht auf den realen Himmel, sondern auf die gemalten Himmel in Treppenhaus, Schwarzer Adler-Kammer und Rittersaal berechnet. Nicht der Himmel über Berlin, sondern der antike Olymp gab dem Schloss seine höhere Weihe. Zugespitzt könnte man sagen, ein Glasdach ließe Schlüters Konzept auch deshalb noch sinnfälliger werden, weil es zur Klärung dieser Bezüge beitrüge.

Hinzu kommt ein weiteres Argument: Wie Barockbaumeister vom Schlage Schlüters sich bemühten, die Grenzen zwischen Malerei, Skulptur und Architektur fließend zu gestalten oder Innen- und Außenräume ineinander übergehen zu lassen, so sehr liebten sie es, den Charakter von Räumen ambivalent zu halten. Aus eben diesem Grunde verliehen sie ihren Stiegenhäusern mittels offener Fassaden den Charakter überbauter Freitreppen. Und wo sich die Fassaden der Treppenhäuser – wie in Göttweig oder Pommersfelden – nicht öffnen ließen, bedeckten Freskanten die Decken mit Scheinmalereien, die einen Blick in den offenen Himmel suggerierten. Im Pommersfelden umgab Lukas von Hildebrandt seine Treppe sogar mit umlaufenden Galerien. Der Besucher des Schlosses wähnt sich so in einem wirklichen Innenhof.

In demselben Maße, in dem geschlossene Räume zu Scheinhöfen mutierten, wurden aber auch aus richtigen Innenhöfen Schein-Innenräume. Das prominenteste Beispiel ist der Hof des Pariser Rathauses, den man vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hinein zu festlichen Anlässen immer wieder mit einem Plafond aus Stoff überdeckte. Zugleich wurden die Fenster der Fassaden ausgehängt, so dass sich die angrenzenden Räume in offene Zuschauerlogen verwandelten.

Eine Kombination all dieser Inszenierungskünste konnte man einst in der berühmten Gesandtentreppe zu Versailles erleben. Gemalte Loggien, aus denen Botschafter aller Herren Länder die Architektur zu bestaunen schienen, verliehen dem Raum den Charakter eines Innenhofes. Gesteigert wurde dieser Eindruck durch einen Lichtschacht in der Decke, den eine Eisen-Glas-Konstruktion überfing. Hätten die Architekten Le Vau und d’Orbay über bessere technische Möglichkeiten verfügt – wer weiß, ob sie nicht das gesamte Gewölbe durch ein Glasdach ersetzt hätten!

Auch in Berlin gibt sich das Große Treppenhaus als eine Art Freitreppe unter offenem Himmel. Warum sollte man dieses Spiel also nicht weiterspielen und im Gegenzug aus dem vorgelagerten Hof einen riesigen Festsaal machen?

Darüber hinaus besäße das Glasdach – zehntens – noch einen ganz anderen Vorzug. Wie die vierte Seite des Hofes, deren vorbarocke Fassaden nach derzeitigem Stand nicht rekonstruiert, sondern modern gestaltet werden soll, wäre es sofort als eine spätere Zutat erkennbar – im Gegensatz zu etwaigen Risalitfenstern und -türen, die eine Originalität beanspruchen würden, die sie niemals besaßen. Im Sinne Schlüters rekonstruierte Fassaden ohne Glasfenster wären an sich schon keine bloße Hüllen, keine Attrappen, die einen modernen Baukörper verstecken, um historische Kontinuität zu simulieren. Denn anders als in ihrem Vorkriegszustand würden sie den Hofraum nicht einfach nur umgrenzen, sondern ihn mit der ihnen eigenen Raumhaltigkeit mitbauen. Ein Glasdach würde diesen Gedanken freilich zu Ende führen. So paradox es klingt: Die konzeptionelle Richtigkeit oder Unrichtigkeit entscheidet darüber, ob eine nachträgliche Zutaten wie ein Glasdach oder wie Glasfenster Schlüters Intentionen vollenden oder zerstören.

Vor allem aber würde ein Glasdach die Nutzungsmöglichkeiten des Schlüterhofs enorm vermehren. Bei der Erörterung dieses elften Aspekts bietet sich der Vergleich mit dem durch Ieoh Ming Pei umgestalten Grand Louvre an, und zwar aus gleich zwei Gründen: Zum einen handelt es sich in beiden Fällen um ein als Museum genutztes Königsschloss. Zum anderen fügte Pei einem historischen Bauwerk gleichfalls Glaskonstruktionen hinzu. Vor allem bei den Pyramiden im Ehrenhof wurde seinerzeit leidenschaftlich die Frage diskutiert, ob eine moderne Stahl-Glas-Konstruktion in den Kontext einer klassischen Natursteinarchitektur zu integrieren sei. Pei zerstreute diese Bedenken, in­dem er ein Glas verwendete, das keinerlei Eisenoxyd enthielt und somit völ­lig durchsichtig und farbneutral war. Da er zudem die tragende Stahl­kon­struk­tion ins Innere der Pyramide verlegte, kam es zu einem scheinbar widersprüchlichen Effekt: Die Glashülle bildet nach Innen einen eigenständigen Raum aus, der sich, sobald man ihn betreten hat, als Teil der Eingangshalle erweist. Nach außen macht sich dieser Raum jedoch nicht bemerkbar; der Charakter des Hofes als ein Gesamtraum bleibt erhalten.

Die Ambivalenz des Glases, sowohl transparent als auch raumteilend zu sein, nutzte Pei auch in der Cour Puget und der Cour Marly im Richelieu­flü­gel, wo er neue Glasdächer einzog. Einerseits blieb der Innenhofcharakter ge­wahrt. Andererseits wandelten sich die Höfe zu ‚Salles des sculptures’. Da Pei im Gegenzug bei den meisten Erdgeschossfenstern die Verglasungen entfernen ließ, wur­den die dahinter gelegenen Zimmer – wie wir sahen in bester Pariser Tradition – zudem zu Galerien, die nun über die Hö­fe hin­weg miteinan­der kommunizieren. Das hatte wiederum zur Fol­ge, dass auch die in diesen Räu­­men aufgestellten Exponate zueinander in Beziehung tra­ten, wobei die Groß­plastiken, die in der Mitte der Höfe Aufstellung fanden, den jeweiligen Fokus bildeten.

Selbstverständlich könnte auch der Schlüterhof – bei Verwendung eines ähnlichen Glases und einer ähnlich geschickten Konstruktion – für solche Inszenierungen genutzt werden, umso mehr, als sein szenographisches Potenzial das der Louvre-Höfe weit übertrifft. Bei Festveranstaltungen könnten die Hoflauben und Treppenhäuser erneut als Logen dienen, bei Ausstellungen würden die Exponate Teil des gesamten Ensembles. Der Hof wäre ein großer Saal und bliebe dennoch als Hof erkennbar.

Gerade wenn man ein Glasdach benutzt, um die Wirkung der offenen Risalite zu steigern, kann man aus der anfänglichen Not eine Tugend machen, könnte aus einer Verlegenheitslösung eine Chance werden. Der einzige wirkliche Nachteil wären die Schatten, welche die Stahlträger eines solches Daches auf die Fassade würfen. Indes fielen sie bei einer entsprechend filigranen Konstruktion kaum ins Gewicht. Außerdem stünden sie in keinerlei Verhältnis zu den eben aufgezählten Vorteilen. Auf gar keinen Fall dürfte die Öffnung der Risalite an ihnen scheitern. Dazu ist Schlüters Konzept viel zu grandios!

Man darf sogar noch einen Schritt weiter gehen und zwölftens behaupten: Nicht nur zu grandios, sondern auch zu modern! Denn in der Reduktion der Treppenhausfassaden auf die tektonisch relevanten Stützelemente, in der dialektischen Inszenierung von Räumen und Flächen, der Verschränkung von Außen und Innen sowie in der Synthese von Komplexität und Stringenz, von Schönheit und Rationalität verwirklichte Schlüter – in der Formensprache seiner Zeit – ein Konzept, das durchaus als Vorwegnahme moderner Bauprinzipien gelten kann.

Mit seiner barocken Modernität hat Schlüter bleibende Maßstäbe gesetzt. Schinkel vermochte es über hundert Jahre später, ihr mit dem Bau des Neuen Museums, der Bauakademie und seinem Entwurf für ein Kaufhaus Unter den Linden auf ebenbürtige Weise zu antworten – eben weil er Schlüters Konzept begriffen hatte. Auch für die heutigen Architekten, welche die nicht-barocken Teile des Schlosses auszuführen haben, wird Schlüters Architektur zur Herausforderung. Gerade die vierte Hofseite wird, sofern man ihre vorbarocken Fassaden nicht auch rekonstruiert, sondern neu gestaltet, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den drei Treppenhausrisaliten bestehen müssen.

Die einfachste Lösung wäre zweifellos eine Spiegelfassade, welche die barocken Teile dupliziert. Aber vielleicht könnte auch hier eine Beschränkung der Verglasung neue Möglichkeiten buchstäblich eröffnen. Wie schön, wenn es gelänge, Schlüters barocker Moderne eine zeitgenössische Moderne entgegenzusetzen, die das Raffinement der Gliederung und die Szenographie von Raum und Mensch in ihrer Sprache wiederholt oder im Sinne einer gelungenen Antithese etwas ganz anderes erschafft. Architekten, die diese Aufgabe bewältigen könnten, gibt es. Und wenn der große Wurf gelänge, trüge die Moderne einen wirklichen Sieg davon. Ihr Verdienst bestünde dann nicht mehr darin, das Schloss verhindert zu haben, sondern – wie einst Schinkel – in der konstruktiven Auseinandersetzung mit ihm Ebenbürtiges geschaffen zu haben. Quantitativ wäre das weniger, qualitativ aber unendlich mehr!

 

Weitere Veröffentlichungen des Autors zum Berliner Schloss:

Da capo, Schlüter! Das Berliner Stadtschloss „im Zeitalter seiner technischen Repro­du­zierbarkeit“, in: http://www2.kunstgeschichte.uni-freiburg.de/Online-Publikationen/Stephan_Stadtschloss_Da_Capo/ (ca. 8 S. u. 1. Abb.) (Freiburg 2000)

Die Fassadensysteme des sog. ‚Schlüterhofs’ im Stadtschloss zu Ber­lin, in: http://www2.kunstgeschichte.uni-freiburg.de/Online-Publikationen/Stephan_Stadtschloss/ (ca. 40 S. u. 93 Abb.) (Freiburg 2000)

Fischer von Erlachs Kaiserstil und Schlüters Fassadenkunst in Vor­der­österreich: Der Ent­wurf Georg Anton Gumpps d. Ä. für das Rotten­burger Schloss, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denk­mal­pflege, Bd. LVI (2002), Heft 2/3, S. 239-260

Schlüters Stadtschloss ist gar nicht zerstört, in: FAZ vom 14. April 2002, S. 42

Hauptstadtarchitektur ‚durch und durch’. Schlüters Fassaden für das Humboldt­forum, in: Jasper Cepl (Hg.), Humboldt-Forum. Symposion zu Fragen der Rekon­struk­tion und der räumlichen Konzeption des Berliner Schlosses für das Humboldt-Forum. Dokumentation der gleichnamigen Tagung der Internationalen Bauakademie Berlin, 8.-10. September 2006, Berlin 2007, S. 39-86

 

2007 Copyright Dr. Peter Stephan